Geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger
Unter dem Stichwort „Unbekanntes in einem bekannten
Umfeld“ lassen sich bei jedem Jahresanfang Ausblicke
machen. Und doch erscheint das Jahr 1999 als ein ganz
besonderes. Mit ihm geht zwar, nach mathematischer Auslegung,
das Jahrzehnt, das Jahrhundert, und somit auch das 2.
Jahrtausend nach Christi Geburt noch nicht zu Ende;
es ist aber immerhin für eine geraume Zeit das
Letzte, welches am Anfang eine Eins hat. Und allein
diese banale Tatsache bereitet sehr vielen Leuten auf
unserer Erde unendlich viel Kopfzerbrechen.
Die Entwicklung unserer Gesellschaft
Betrachten wir einmal kurz die Entwicklung der Menschheit,
unserer Gesellschaft im Zeitraum seit Christi Geburt.
Es fällt auf, dass sich im 20. Jahrhundert, und
insbesonders in der 2. Hälfte davon, das Tempo
der Neuerungen, der technischen und wissenschaftlichen
Errungenschaften überproportional beschleunigt
hat. Was vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren
in der Wirtschaft und Gesellschaft als wegweisend, als
fortschrittlich galt, wird durch neue Erfindungen rasch
zum „Ladenhüter“. Nicht die Forschung,
nicht die Wissenschaft und nicht die Technik an sich
sind es, die etwelche Leute verunsichern. Allein das
Tempo ist es, welches zu denken gibt und uns Menschen
zum Nachdenken anregt, oder besser noch, uns zum Nachdenken
zwingt.
Es ist nun aber grundlegend falsch, daraus den radikalen
Schluss zu ziehen und zu behaupten, wissenschaftlicher
Fortschritt und neue Technologien seien grundsätzlich
schlecht. Die Gegenfrage dazu würde nämlich
lauten: Wo ständen wir heute, wenn nicht Forschung
und Entwicklung in den letzten Jahrhunderten unsere
Menschheit zu immer neuen Erkenntnissen gebracht hätte.
Eine solche Standortbestimmung darf dann aber nicht
nur die Veränderungen in Technik und Wirtschaft
beleuchten, sondern sie muss unbedingt auch den Entwicklungsprozess
in den Geisteswissenschaften miteinbeziehen.
Die Veränderungen in der Technik (als Beispiele
dienen die Elektronik oder die Gentechnik) und die Veränderungen
in der Wirtschaft (Beispiel: Wertschöpfung für
die Aktionäre oder modern „Shareholder value“)
laufen ungebremst weiter. Wo sind die pflichtbewussten
Philosophen, Theologen oder Sozialwissenschaftler, welche
als „Advokaten der Menschheit“ die Macht
der Technik und das Verhalten der Wirtschaft mit kritischen
Augen begleiten und uns zuweilen ermahnen? Gibt es diese
Geisteswissenschaftler überhaupt? Nehmen wir sie
wahr? Oder müssten wir uns nicht alle an ihrer
Stelle mit solchen Fragen beschäftigen; müssten
nicht wir die Aufgabe des kritischen Hinterfragens übernehmen?
Die neue Wirtschaftsordnung
Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Niedergang
der damaligen Sowjetunion wurden die dort vorherrschenden
Wirtschafts- und Gesellschaftsstukturen bei uns im Westen
zu recht als falsch taxiert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse
haben dazu geführt, dass man die freie Marktwirtschaft
sehr stark gefördert, ja z.T. sogar glorifiziert
hat. Die Folgen davon sind bekannt: Weltweite Fusionen
von Firmen zu Mammutgebilden und daraus entstehende
Monopolsituationen. Die sogenannte Globalisierung schafft
mit Hilfe von (zu) tiefen Mobilitätspreisen für
eine riesige Produktepalette fast ungehindert Zutritt
auf die weltweiten Märkte. Bis vor kurzem wäre
das nicht denkbar gewesen. Man kann in diesem Zusammenhang
wohl mit Recht von einer ökonomischen Weltrevolution
sprechen. Diese Entwicklung kann, isoliert betrachtet,
durchaus erstrebenswert sein. Hält sie aber auch
einer ganzheitlichen Betrachtungsweise stand? Nimmt
sie ihre soziale Verantwortung wahr? Wenn grosse Volkswirtschaften
in Russland, Korea, Brasilien und sogar Japan vor dem
Ruin stehen, kann dieser eingeschlagene Weg doch wohl
nicht der wirklich richtige sein. Wird hier das Gebot
der Stunde, die Nachhaltigkeit, beachtet?
Wer vor 7 Jahren das Wort „nachhaltig“ in
den Mund genommen hat, wusste, welche Definition die
Konferenz von Rio diesem Ausdruck zukommen liess. Diese
besagt: “Die Gesellschaft verhält sich nachhaltig,
wenn sie so strukturiert ist und sich so verhält,
dass sie über alle Generationen existenzfähig
bleibt. Sie ist so weitsichtig, wandlungsfähig
und weise, dass sie ihre eigenen materiellen und sozialen
Existenzgrundlagen nicht unterminiert. Sie wird den
Erfordernissen der Gegenwart angemessen gerecht, ohne
die Möglichkeiten der künftigen Generationen
zu beschränken, ihren eigenen Bedürfnissen
nachzukommen.“
Wenn ich bedenke, für was alles der Ausdruck „nachhaltig“
in der heutigen Umgangssprache, in der Presse und auch
in diesem Saal herhalten musste und wohl auch in Zukunft
noch herhalten muss, denke ich an Goethe. Er lässt
Thoas zu Iphigenie sagen: „Du sprichst ein grosses
Wort gelassen aus.“
Die Aufgabe der Politik
Grundsätzlich sind wir alle aufgefordert, auf die
aufgeworfenen Fragen Antworten zu suchen und zu geben.
Wenn die Weltwirtschaft schon so viel ökonomische
Freiheit verlangt, muss sie sich auch ihrer Verantwortung
bewusst werden. An der diesjährigen Neujahrstagung,
zu welcher das Unternehmen unseres Vizepräsidenten
eingeladen hat, machte die Ökonomin Betty Zucker
vom Gottlieb Dutweiler Institut interessante Ausführungen
unter dem Titel: “Verantwortung ist der Preis,
den man für die Freiheit zahlt“. Diese Weisheit
gilt sicher nicht nur für die Weltwirtschaft, sie
hat allgemeinen Charakter. Aber speziell zugeschnitten
ist der Ausspruch natürlich schon auf unser ökonomisches
Denken und Handeln. Globale Produktions-, Handels- und
Konsumfreiheit, ohne gleichzeitige soziale, ökologische
und gesellschaftliche Verantwortung könnte zu einem
grossen Bumerang werden. Dann nämlich, wenn daraus
Gegenkräfte generiert werden, welche die Ideen
vom reinen, staatlichen Sozialismus sowjetischer Prägung
wieder aufnehmen.
Deshalb ist heute in besonderem Mass die Politik gefordert.
Sie hat auch im Bereich „Ökonomie“
die Instrumente, Gegensteuer zu geben. In einer Zeit
der rasanten Entwicklung läuft die Politik jedoch
Gefahr, immer einen Schritt zu spät zu kommen.
Wenn sie immer und immer wieder nur an den Rahmenbedingungen
schräubelt und dabei nur Symptome bekämpft,
sind das letztlich nichts anderes als politische Feuerwehrübungen.
Gefragt ist Vorausschauen, gefragt sind Vordenkerinnen
und Vordenker. Solche braucht es nicht nur in der Forschung,
an den Börsen, in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft.
Sie sind in der Politik nötiger denn je. Damit
will ich nicht sagen, dass kluge Köpfe aus Wirtschaft
und Forschung sich für die Politik nicht interessierten.
Wenn sich aber Politik und Wirtschaft nicht einigermassen
die Balance halten, nicht am gleichen Strick ziehen
und nicht ungefähr gleich viel Beachtung in der
Öffentlichkeit finden, geht die Motivation zum
gleichzeitigen Engagement in Politik und Wirtschaft
verloren. Kommt noch dazu, dass VordenkerInnen in der
Politik vielfach als unbequem gelten, weil sie Tendenzen
aufzeichnen, welche von der Öffentlichkeit und
z.T. auch von der eigenen Gilde (noch) nicht wahrgenommen
werden.
Der Staat in diesem veränderten Umfeld
Damit komme ich zu einem ganz zentralen Anliegen. Der
Staat, die öffentliche Hand wird heute vielfach
als Last empfunden. Steuern und Gebühren einziehen
ist nicht angenehm, auch die Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit bedeutet zuweilen Einschränkung. Aber
haben wir uns auch schon gefragt, was wir als Gegenleistung
für den Obolus an den Staat von diesem zurückerhalten?
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Unsere Jugend erhält eine angemessene Bildung. Wir
pflegen eine vielfältige Kultur. Wir verfügen
über ein gut ausgebautes Sozial- und ein überdurchschnittliches
Gesundheitssystem. Unsere Sicherheit wird nach bester
Möglichkeit gewährt, obwohl wir uns auch schon
sicherer gefühlt haben. Der Ausgleich zwischen den
starken und schwachen Regionen funktioniert; was nicht
heissen will, dass er nicht noch verbessert werden könnte.
Unser Mobilitätsbedürfnis wird durch das Bereitstellen
der nötigen Infrastruktur zufriedengestellt. Und
schliesslich dürfen wir uns in alledem auch immer
auf unsere vielfältigen persönlichen Rechte
als Bürgerinnen und Bürger berufen. Damit dies
und anderes funktioniert, braucht es die Oeffentlichkeit,
braucht es unser demokratisch aufgebautes Staatssystem.
Wenn wir die eingangs dargestellten Herausforderungen
der Zeit ernst nehmen, brauchen wir auch in Zukunft einen
starken Staat. Einen Staat, der nicht zum Symptombekämpfer
degra-diert wird, sondern sich auch als Vordenker versteht.
Ein Staat ist immer so stark, wie es seine Bürgerinnen
und Bürger zulassen. In ihrer Gesamtheit fällt
diesen in unserer direkten Demokratie das Recht und die
Verantwortung zu, das letzte Wort haben zu dürfen.
Somit ist das Volk immer in den politischen Entscheidungsprozess
eingebunden. Es entscheidet über Änderungen
und Korrekturen in der Innen- und Aussenpolitik. Im Idealfall
dann und dort, wo sie sich in einem Bereich abzuzeichnen
beginnen. In der Praxis aber vielfach erst dann, wenn
sie bitter nötig sind.
Die angespannte Finanzlage der öffentlichen Hand
hat in der jüngsten Vergangenheit zu einem harten
Verteilkampf geführt. Die Folge davon sind vielfältige
Lobbyorganisationen, welche in der Politik mitmischen.
Das ist legitim. Die Gefahr besteht aber, dass partikulare
Interessen über das Allgemeinwohl gestellt werden.
Deshalb ist gerade heute staats- politisches Denken und
Handeln angesagt. Und dazu möchte ich mich in der
Folge etwas ausführlicher äussern.
Der moderne Föderalismus
Der Schweizerische Bundesstaat hat die ersten 150 Jahre
wohl deshalb gut überlebt, weil sich immer wieder
besonnene Kräfte für übergeordnete Werte
und Ziele in unserem Staat eingesetzt haben. Unter der
zunehmenden Schnelllebigkeit der vergangenen Jahre - ich
habe sie eingangs erwähnt - hat vor allem unser Föderalismus
gelitten. Im Grundsatz ist die subsidiäre Verteilung
von Verantwortung und Kompetenz die bürgerfreundlichste
und wirkungsvollste Art, staatliche Aufgaben zu lösen.
Nur haben sich in der Vergangenheit diese Aufgaben sehr
stark gewandelt. Es stellt sich nun die Frage: Ist unser
Föderalismus diesem Wandel gefolgt, hat er ihn mitgemacht?
Ich behaupte, zuwenig! Das tönt wohl in vielen Ohren
provokativ.
Ich möchte meine Überlegungen anhand unserer
Gesetzgebung darzulegen: Die einzelnen Bereiche, welche
vom Gesetzgeber geregelt werden müssen, werden immer
komplexer, sie greifen sehr stark ineinander. Sie haben
in der Regel viele Komponenten: finanzielle, volkswirtschaftliche,
kulturelle, soziale usw. Und nun stellen wir fest, dass
die oberste Stelle in unserer bundesstaatlichen Hierarchie,
der Bund, immer mehr Rahmengesetze erlässt und die
Ausführung den Kantonen überlässt. Diese
wiederum handeln im gegebenen Spielraum autonom und delegieren
weiter an die Gemeinden. Eine konsequente Aufgabenteilung,
wie sie vor 150 Jahren bestanden hat, findet heute nicht
mehr statt. Die Folge davon sind Rechtsunsicherheiten,
wir bewegen uns in Richtung Richterstaat. Eine weitere
Folge ist auch fortschreitende staatspolitische Verdrossenheit
des Volkes. Diese ist erklärbar, weil die politischen
Abläufe zu wenig transparent sind. Dem kann mit Hilfe
einer konsequenten Aufgabenteilung auf den drei Stufen
Bund, Kantone und Gemeinden abgeholfen werden.
Wenn wir uns ernsthaft an diese Aufgabe machen, stellen
wir dann rasch fest, dass die Idee von 6-10 Kantonen kein
Hirngespinst mehr sein muss. Als Zwischenschritt zu diesem
mittelfristig erreichbaren Zustand braucht es kurzfristig
Massnahmen. Die wichtigste ist die grundlegende Neugestaltung
des bundesstaaltlichen Finanzausgleichs. Das Ziel dabei
muss sein, die grossen Unterschiede bei der Steuerbelastung
in den Kantonen anzunähern. Erst dann sind die Voraussetzungen
gegeben, dass Zusammenschlüsse erfolgen können.
Die Akzeptanz wird, das ist menschlich und schweizerisch
zugleich, viel eher über das Portemonnaie als über
staatspolitischen Idealismus zu erreichen sein.
Ein Kanton Zentralschweiz?
Die Vorstellung, dass in 20 Jahren die Zentralschweiz
nicht nur eine wirtschaftliche Region, sondern auch eine
politische Einheit darstellt, ist für mich durchaus
wünschenswert und real. Zwar wird es auch dannzumal
sicher immer noch Unterschiede in der fiskalischen Belastung
geben. In Freienbach werden auch in 20 Jahren Mann und
Frau tiefere Gemeindesteuern bezahlen als im Entlebuch.
Die Differenz aber, so hoffe ich, werde sich wesentlich
verkleinern. Weiter hoffe ich, dass bei der Geburt des
Kantons Zentralschweiz eine zeitgemässe Luzerner
Staatsverfassung als Patin walten darf. Machen wir uns
also ans Werk, und hauchen dieser designierten Gotte in
Bälde Leben ein.
Die politische Arbeit im Grossen Rat
Und damit bin ich bei unserem eigentlichen Handwerk, der
kantonalen Politik, angelangt. Dazu darf ich, aus aktuellem
Anlass, von hier aus 5 Wünsche an Sie meine Damen
und Herren anbringen.
1. Schaffen wir bei unserer primären Arbeit, dem
Legiferieren, klare und verständliche Erlasse, welche
nur kleine Interpretationsspielräume offen lassen.
So verkommen wir nicht zum Richterstaat.
2. Viele Leute machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Ich
denke in erster Linie an die Mitmenschen, die keine Arbeit
haben oder ausgesteuert sind. Ich denke auch an viele
KMUs und landwirtschaftliche Familienbetriebe, welche
vom Strukturwandel betroffen sind und um ihre Existenz
bangen. Ich denke an die vielen Mitbürgerinnen und
Mitbürger, die sich in ihrem Umfeld nicht mehr sicher
fühlen. Und ich denke an die Menschen, die in unserem
Land Zuflucht gefunden haben, und bangen, zunehmend einer
verallgemeinernden Denkweise ausgesetzt zu sein. Nehmen
wir die Ängste unserer Mitmenschen ernst und üben
in unserer Arbeit Solidarität.
3. Zeigen wir uns gegenüber unserer Bevölkerung
bürgernah und freundlich. Das hilft, das staatspolitische
Verständnis neu zu wecken.
4. Arbeiten wir mit dem Kopf, lassen dabei aber auch das
Herz - als gleichberechtigte Partnerin - zu Wort kommen.
5. Bedenken wir, obwohl wir in diesem Saal wichtige Arbeiten
verrichten, dass wir nicht der Nabel der Welt sind. Die
kürzlich veröffentlichten Erkenntnisse über
die Existenz von Milliarden neuer Galaxien, auf denen
mit Bestimmtheit irgendwo menschenähnliche Wesen
sind, mag uns alle darüber hinweg trösten, nicht
die allerwichtigsten Individuen zu sein. Denken wir beispielsweise
daran, wenn wir lange Debatten führen und Gesagtes
wiederholen. Und damit wäre auch für mich das
Stichwort gegeben, zum Schluss zu kommen.
Meine Damen und Herren
Wer sich aktiv in die Politik begibt, stellt sich in den
Dienst des Volkes. Und diesen Dienst am Volk haben wir
hier bei unserem Handeln und Tun zu erfüllen. Das
ist eine schöne und zugleich verantwortungsvolle
Aufgabe. Erfüllen wir sie mit staatspolitischer Sorgfalt
und mit ganzheitlichem Denken, nach dem Grundsatz:
Der Preis der Freiheit ist die Verantwortung.
Diese geistige Haltung erbitte ich ebenfalls für
unser Volk, und selbstverständlich auch für
mich persönlich. |